Woche der Demenz: Mit Sport das Vergessen vergessen

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Wie beim 1. VfL FORTUNA Marzahn mit Tischtennis gegen die Krankheit gekämpft wird

Jürgen Schäffner schaut zur Tischtennisplatte. „Die beiden haben über 160 Ballwechsel geschafft“, sagt der Übungsleiter über seine Schützlinge Jutta und Frank, die mit ihm in einer Sporthalle in Marzahn stehen. „Das musst du als Anfänger erst einmal hinkriegen.“ Dazu gehöre eine Vielzahl Fähigkeiten: gute Hand-Augen-Koordination, Aufmerksamkeit, Ausdauer, Raumorientierung und Rhythmusgefühl. „Das haben sie anfangs nicht gekonnt.“ Umso beeindruckender: Frank ist demenzkrank. Jutta betreut ihn und spielt engagiert mit. Bei Demenz denkt man an Gedächtnisverlust, doch auch Motorik und Wahrnehmung lassen nach. Das Angebot „Tischtennis für Menschen mit Demenz und Angehörige“ des 1. VfL Fortuna Marzahn versucht, dem etwas entgegenzusetzen, Freude, Fitness, Selbstvertrauen und Aktivität zu vermitteln.

So steht wie immer dienstags ein gutes Dutzend Aktive in der Halle an der Allee der Kosmonauten. Bis auf zwei Teilnehmer sind alle hier über 70, auch Trainer Schäffner, der die Gesundheitssport-Sparte des Vereins seit Januar 2022 leitet. Nach gründlicher Erwärmung und Koordinationsübungen, etwa Bälle mit Schlägern balancieren, wird mit wechselnden Partnern an vier Platten gespielt, auch Rundläufe gibt es zwischendurch.

Ab und an werden die Teilnehmenden ermuntert, Sätze zu spielen und ihre Kräfte zu messen. Das Mitzählen der Spielstände hilft, sich besser zu konzentrieren. Die Herren und Damen spielen vergnügt bis verbissen, kaum anders als andere Senioren-Gruppen. „Wenn du nur schaust, wüsstest du nicht, wer Demenz hat, wer nicht. Das kriegst du so nicht mit“, berichtet Schäffner. Einige sind mit Angehörigen hier oder mit einem Betreuer. Manche kommen allein. Es wird geschwatzt und gelacht. „Viele wollen nicht in der Isolation bleiben und suchen Kontakt.“

Es ist ein großes Problem bei Demenz: Nach der Diagnose ziehen sich die Betroffenen oft zurück, haben Angst, unter Leuten unangenehm aufzufallen und bauen dadurch womöglich noch mehr ab. In Deutschland leiden 1,8 Millionen Menschen an der leider immer noch unheilbaren Krankheit, in Berlin sind es 55.000 und in Marzahn-Hellersdorf ca. 5000, sagt Schäffner. Der Bedarf ist also da. Ein Grund, warum die Bundesregierung 2020 eine nationale Demenzstrategie auflegte, die auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und der Deutsche Tischtennis-Bund (DTTB) mit umsetzten. So kam Schäffner mit dem Thema in Berührung, der das Projekt in seine Kurse im Gesundheitssport Tischtennis integrierte. Der 70-Jährige las sich schlau. Viele Studien besagen, Tischtennis verzögere den neuronalen Abbau. Dabei kommt es in dem Sport besonders auf Reaktionsschnelligkeit an. „Bei Demenz hast du nicht nur kognitive Entschleunigung, alle Sinneswahrnehmungen sind reduziert.“ Man werde langsamer. „Durch Bewegung wird alles aktiviert.“ Nicht jeder habe Lust auf Sport. Aber viele Betroffene hier waren früher sportlich unterwegs und knüpfen gedanklich daran wieder an. „Du merkst, dass einige richtig ackern, gegen die Krankheit kämpfen wollen.“

Die Nachfrage ist hoch, die Sportgruppe Demenz hat 20 Mitglieder, obwohl Schäffner kaum Werbung macht. Bald müsste er zwei weitere Platten kaufen, eine steht schon im Nebenraum. Über die Krankheit reden ist im Allgemeinen noch Tabu. In der Gruppe wird offen kommuniziert, der Trainer bittet jedoch um sensiblen Umgang, fragt herum, wer darüber sprechen möchte und wer vielleicht Angst hat, dass Nachbarn und Bekannte von der Erkrankung erfahren.

Dieter Krause, 81, und Karin Rappold, 78, wollen reden. Er ist seit 2019 an Demenz erkrankt. Mein Kurzzeitgedächtnis ist nicht mehr das Beste, wenn ich etwas suche. Ich vergesse vieles.“ Seine Lebensgefährtin hat das Angebot gefunden, weil er 30 Jahre in Vereinen Basketball spielte. „Tischtennis macht Spaß, ich habe ja früher gespielt“, sagt er und sie korrigiert: „Nee, Basketball.“ Auch, widerspricht er, aber privat. Krause ist weiterhin ehrgeizig, macht in den Pausen Kniebeugen. „Viele spielen hier Pingpong, ich bringe noch Schmetterbälle und schneide an“, sagt Krause stolz. Auch Joachim Böttcher, 71, und Frau Gabriele, 69, betonen, sie spielen Tischtennis, kein Pingpong. Er hat ebenfalls leichte Alzheimer. Sie hat ihn angemeldet und begleitet ihn. „Mein Mann würde nie alleine kommen.“ 

„Ich würde, aber ich weiß nicht mehr, wo die Busse fahren“, sagt er und lächelt sie an. Es gibt viel Humor und Frotzeleien, wie unter Paaren und Sportsfreunden üblich, der Umgang ist sehr herzlich. Seine Frau hat die Gruppe im Februar 2022 mitgegründet. „Wir sind hier in einem geschützten Raum, das ist wichtig, keiner nimmt etwas übel“, sagt sie. Auch der Austausch unter Angehörigen hilft und sei er nur kurz.

Es ist natürlich nicht alles heile Welt. Schäffner hatte auch schon Teilnehmer, die vor und nach dem Training nicht wussten, wo sie waren, erzählten ihm Betreuer, oder irgendwann nicht mehr kamen. Aber beim Sport selbst vergessen viele kurz das Vergessen. Ähnlich wie Parkinson-Erkrankte oft im Spiel nicht zittern. Auch für sie gibt es Tischtennis-Angebote, für Demenzkranke auch in Steglitz.

Am Ende gibt es ein Gruppenbild, es wird viel herumgealbert. „Auch Angehörige?“, fragt jemand. „Wir sind alle angehörig“, sagt Schäffner, „zugehörig.“ Und jemand Drittes ergänzt: „Ungehörig!“ Man merkt das Motto, das der Übungsleiter und Mit-Trainer Heinz Kanitz haben: Das Wichtigste sei der Spaß. Gabriele Böttcher ergänzt: „Wir sind hier unter uns und können sein, wie wir wollen.“ Sei es fröhlich, fit, zittrig, vergesslich, still oder gesprächig. Und nicht jeder muss 160 Bälle treffen.